Ein Mann. Der Krebs. Das Tagebuch.

by Take Janssen

Freitag, 13. Mai. Die Hiobsbotschaft.



"Es ist das, was ich befürchtet habe", beginnt der Arzt das Gespräch. Ich schaue ihn an mit offenen Augen, ohne zu zwickern, in Erwartung dessen, was mir seit Wochen auch schon durch den Kopf geisterte, aber dennoch in sich die Hoffnung barg, dass mich eine göttliche Kraft vor dem bewahrt. "Hoffnung ist eine Jagd ohne Spur", sagte mal ein Dichter.

Einige Sekunden ist es still, er wartet auf meine Reaktion. Ich reagiere nicht, ich ahne, dass jetzt etwas Unheilvolles folgt.

"Ich will offen sein. Die Metastasen sind in allen Knochen, haben im ganzen Körper gestreut." Er schaut auf den Bildschirm. Wieder Pause. Wahrscheinlich glaubt er, ich habe es nicht kapiert und holt den Vorschlaghammer raus. "Es ist hart, aber den nächsten Geburtstag werden Sie sehr wahrscheinlich nicht erleben."

Ich denke, er verwechselt mich. Kann schon passieren, dass man sich vertippt. Irgendwie rauschen diese seltsamen, außerirdisch anmutenden Sätze an mir vorbei. Ich antworte tatsächlich wie im Rausch, aber ich meine es ernst. "Ich habe keine Angst vor dem Tod!" Er rollt mit den Augen, sagt ziemlich barsch, ohne mich anzuschauen: "Sagen Sie sowas nicht!"

Gestern war ich in der Radiologie und wurde umfangreich "gecheckt", MRT, CT, Röntgen, spritzen von radioaktivem Stoff (was ???), die komplette Prozedur. Die Ergebnisse wurden der Praxis online übermittelt. Der Arzt sieht sie. Ich sage nichts. Ich kann mir das von meinem Körper einfach nicht vorstellen. Voller Metastasen? Ich zweifle es an. Ist das noch "mein" Körper? Ich bin hellwach, bin jetzt voll auf Empfang. Sonderbar, schizophren, denn irgendwie berührt mich das gar nicht, es ist so als ob es sich um jemand anderen handelt. Ich will fragen, ob die Punktierung/Biopsie, die Entnahme der Gewebeprobe vor vier Tagen zum gleichen Ergebnis kam, unterlasse es aber und blicke ihn direkt in die Augen.

"Wir müssen therapieren. Keine Diskussion." Mit 'keine Diskussion' will er natürlich einen eventuellen Widerspruch von mir unterbinden. Bei dem esten Treffen in der Praxis hatte er mich gefragt, ob ich geimpft sei. Ich verneinte und setzte hinzu, dass ich auch nicht vorhabe, mich gegen Corona impfen zu lassen.

"Ich wusste es gleich, als ich Sie sah!", war seine Antwort. Ein kurzer Gedankennaustausch folgte, mit durchaus gegensätzlichen Ansichten, wobei ich erfuhr, dass er schon drei Mal geimpft ist.

Also jetzt keine Diskussion über eine Therapie? Ich überlege. "Was passiert, wenn wir nichts tun?", will ich wissen.

"Vier Monate ... acht Monate ... in spätestens einem Jahr sind Sie tot. Sorry, ich bin ganz offen, es ist hart, das ist die Realität."

"Ich sagte schon, ich habe keine Angst vor dem Tod", ist meine nüchterne Antwort und ich meine es ernst, ohne eine Spur von Traurigkeit oder einer anderen emotionalen Regung, denn die Frage des irdischen Ablebens stellt sich mir nicht erst seit diesem Moment. "Ich meine es Ernst, ich beschäftige mich ja schon seit Wochen ..".

Er unterbicht mich. "Es gibt keine Wahl. Ich will Sie mindestens noch die nächsten fünf Jahre hier sehen, dann gehe ich in Rente."

"Wie wäre der Verlauf, der ganze Krankheitsverlauf innerhalb des Jahres?"

"Es wird schlimm. Zuerst bleibt es wie jetzt." Es macht eine langsame horizontale Handbewegung, um dann seine Hand plötzlich in die Höhe schießen zu lassen. "Dann steigen die Beschwerden, die Schmerzen werden unerträglich. Opium ist dann die einzige Lösung." Pause. "Es könnte auch anders, bei einer angemessenen Lebensqualität."

"Was heißt denn angemessene Lebensqualität?"

"Normal pinkeln wirst du nicht mehr können, aber ...". Er duzt mich auf einmal, macht das zwischendruch immer mal wieder. ist mir fast schon sympathisch.

Jetzt unterbreche ich ihn. "Ich habe so viel erlebt und genossen, dass ich nichts Neues mehr probieren muss, ich weiß nicht, was es noch Schönes zu erleben gäbe, einzig die Neugierde hält mich hier ... vielleicht Reisen oder so ..."

Im Schnellwaschgang denke ich dabei an mein bisheriges Leben, so wie ich es in den vergangenen Monaten öfter getan hatte, eher vielleicht, um mir selber einen Grund zu liefern, der meine Gedanken zum endgültigen Abschied von Mutter Erde zu rechtfertigen. Doch ganz stimmt das auch wieder nicht, denn im Grunde möchte ich noch Einiges "erledigen", zu dem ich trotz meiner mannigfaltigen Aktivitäten nicht gekommen war. Unfertige "Baustellen" gibt und gab es einige, sie werde ich mit ins Grab nehmen, jemand anders wird sie übernehmen, weiterführen, vielleicht bin ich es auch selber, in einem anderen Menschen. In früheren philosophisch angehauchten Gesprächen habe ich selber oft geäußert, dass ein Menschenleben von hundert Jahren nicht ausreichen würde, um alle materiellen und immateriellen Interessen eines weltoffenen Geistes zu befriedigen. Nun ja, Ansichten können sich ändern. Philosophie ist des Trübsals süße Milch.

"Wie sieht die Therapie aus?", frage ich den Arzt.

"Ich zeige Ihnen zwei Optionen auf. Die erste ist: Dauer sechs Monate. Sie nehmen Tabletten und bekommen Spritzen alle vier Wochen. Diese Version ist teuer. Sie müssen mit fünf bis sechs Tausend Euro rechnen ... pro Monat."

Ich schlucke. "Das kann ich nicht bezahlen."

"Die Krankenkasse bezahlt es ... zum Teil ... aber Sie müssen ja vorschießen. Das sind Kosten, die bei Ihrem Basistarif anfallen." (Ich hatte mich vor zwei Jahren auf den Basistarif zurückstufen lassen, bin aber immer noch "privat" versichert.)

In der Tat ist es so, dass ich auf einem finanziellen Level angelangt bin, besser gesagt, gefallen bin, aufgrund der monatelangen Arbeitszwangspause, der solche Summen absolut nicht zulässt. Meine beiden Bankkonten weisen im Moment gesamt mal so viel Guthaben auf, wie es zum Lebensmitteleinkauf für den Rest des Monats reichen sollte, bei ziemlicher Einschränkung. Da ich aber sowieso in den letzten acht Wochen kaum Appetit hatte, halten sich die Ausgaben in erträglichen Grenzen. Wie es zu dieser fatalen Finanzsituation kam, beschreibe ich an anderer Stelle. (siehe "Vorgeschichte")

"Die andere Option geht über drei Monate, da müssen Sie mit circa zwölfhundert bis fünfzehnhundert Euro pro Monat rechnen. Tabletten müssen sie auf jeden Fall einnehmen ... " Er schaut in seinen PC. "... die Spritze kostet rund fünfhundert bis sechshundert Euro." Sein Blick bleibt am Bildschirm. "Ich gucke gerade nach billigeren Produkten ... nein, die kann ich nicht empfehlen ... Wäre das in Ordnung für Sie?"

"Ich habe wohl keine andere Wahl", sage ich, nachdem ich den Hals wieder frei habe.

Ich weiß, ich muss den Umschlag mit den fünf Tausend wieder öffnen, den ich eigentlich für meinen Bruder im Pflegeheim vorbereitet hatte, schon fertig frankiert, für den finalen Fall. Die Scheine hatte ich zu jeweils ein Tausend in fünf Briefumschlägen und diese in einer DVD-Kassette von "Herr der Ringe" gelegt, damit es nicht auf Anhieb als Geldsendung erkenntlich ist, falls die Mitarbeiter/innen des Pflegeheims die Post öffnen sollten.

"Wie ist es denn mit der Option, die Prostata zu entfernen? Ihre Kollegin hat mir diese Möglichkeit aufgezeigt ..."

"Man kann sie ausschälen, aber es macht bei Ihnen keinen Sinn mehr in dem metastasiertem Stadium. An der Rezeption bekommen Sie das Rezept. Mit den Tabletten beginnen Sie sofort, heute noch. Die Spritze setze ich hier in der Praxis nächste Woche." Er sagt es in einem Tonfall, der das Gespräch für beendet erscheinen lässt. Das klingt für mich zu sehr nach Abwürgen. Ich habe Fragen. "Welche Aussichten bestehen, wenn wir die zweite Version verfolgen?"

"Die Chance auf die nächsten fünf Jahre sind durchaus gegeben. Wie gesagt bei entsprechender Lebensqualität ..." Der Mediziner ruscht in seinem Stuhl nach hinten, er streckt die Beine seitlich aus. Schon beim ersten Sichten hatte ich ihn als lässig-burschikosen Typen eingeschätzt, was mir durchaus gefiel. Manchmal, beim Hereinrufen in sein Besprechungszimmer dutzte er mich sogar. Alles in allem eine sympathische Begegnung.

"Wenn Sie machen, was ich Ihnen sage, dann kann es gut gehen .."

"Medizinische Behandlungen waren für mich immer ein fremder Bereich, ich habe keine eigene fachliche Meinung, also vertraue ich Ihnen."

"Das können Sie ... müssen Sie."

"Wann hat der Prozess eingesetzt, ich meine, ich brauchte bis jetzt keinen Arzt, außer Augen- und Zahnarzt, habe nie Medikamente genommen, mir hat bisher nichts gefehlt .."

"Das dachten Sie! Ich hätte den Krebs sehr wahrscheinlich schon vor Jahren festgestellt. Ich bin gut auf dem Gebiet."

Ich lache kurz wegen der Selbsteinschätzung, ist mir aber nicht unangenehm. Der Anlass, warum ich überhaupt die urologische Praxis aufgesuchte, war absolut nicht der Gedanke an Krebs, gut, ab und an mal, dass etwas mit der Prostata nicht stimmen könnte, aber nie im Leben Krebs. - (siehe "Rückblende")

Der Heimweg

Es ist 14:30 Uhr, als ich mit den Rezepten in der Tasche die Praxis verlasse. Die Sonne schickt wohltuende, wärmende Strahlen. Ich nehme die Nasen-Mund-Maske ab, atme tief durch. Zum Auto habe ich drei Minuten Fußweg. Ich bemerke, wie bedächtigt ich schreite, kleine Schritte sind es, darauf bedacht, nicht allzu hart aufzutreten, es ist ein schleppender, vorsichtiger Gang, so wie ich ihn oft bei älteren Menschen beobachtete. Und ich laufe mit gebeugten Rücken. Spontan wird mir bewusst: ich bin alt. Erst recht nun mit dieser Diagnose, mit dieser Krankheit, mit diesem Defekt. Allein die Konfrontation mit der Diagnose ist schlimm, lebensbedrohlich, nur die Vorstelluung von einem unheilbarem Vorgang im Köroer, einem eingeleiteten Sterbe-Prozess. Herr Wehrmann unterstellte mir: "Sie nehmen das nicht ernst. Sie befinden sich in einem Stadium des Höchstrisikos." Ist es trotzdem gut, wenn man das nicht ernst nimmt? Wie ein aufgeschlossener Mediziner ?? mal sagte "Allein die Diaognistik kann schon töten."

Ich drücke mein Kreuz durch, ziehe die Schultern nach hinten, es schmerzt. Natürlich, bei der seit fast drei Monaten Appetitlosigkeit, sprich aufgezwungenen Fastenzeit, habe ich stark an Muskelmasse verloren. Mit Fett hatte ich nie Propleme, keinen Altersbauch, kein Übergewicht. Gestern in der Radiologie fragte mich die Ärztin, wie schwer ich bin. Ich antwortete, dass ich keine Waage besitze, hatte immer ein ungefähres Gewicht von 88 bis manchmal auch 90 Kilo, daran erinnere ich noch aus meiner aktiven Sportzeit, jetzt müssten es um die 75 sein. Bei einer Körpergröße von 183 cm wäre das fast ideal, fast, wenn nicht der Muskelschwund wäre.

"Sicher sind es jetzt auch noch weniger Kilo ...", war ihre Einschätzung.

Ich weiß, dass ich nicht sofort in eine Apotheke kann, muss vorerst meine Finanzen checken. In der Tasche habe ich dreizig Euro und ein paar Münzen. Fünfzig Euro könnte ich noch vom Geldautomatenn holen oder eben den Umschlag öffnen, der für meinen Bruder gedacht war.

Ein Tag wie jeder andere?

Werkstattbesuch ----- Fahrradkauf ---- Parkplatzsuche - Auto abstellen - zu Fuß nach Hause -- Anrufe -- Einladung zum Picknick an der Weser--- soll Akkordeon spielen -- Essen --- endlich trinken --- Das Wasser, was mir Birgit von sich aus gebracht hatte ist verbraucht ---- Wasser aus der Plastikflasche --- Emails checken --- Anruf von M. - Suppe essen ---

Abends

Fußweg 20 Minuten -- Tan...? spricht mich an, fragt, wie es mir geht, er arbeitet in der Küche der Gstronomie nebenan - hat er meinen Gang beobachtet? --möchte wissen wie alt ich bin --- ich antworte immer mit einer Gegenfrage: Rate mal. Er schätzt mich auf 63. Auch dann ist meine Antwort immer: Du kannst gut schätzen. Er ist 64 --- zeigt mir, wie fit er ist, stößt mit dem Knie ein paar Mal gegen den Pfosten mit dem Straßenschild ... ich erwähne, dass ich mal Karate und Judo betrieben habe ...

22:30 Uhr -- sehr matt und müde -- erstmal hinlegen --- tief atmen, Licht atmen ... 23:00 Uhr .. bin plötzlich sehr aktiv --- Anzeigen internet --- 00.40 Bettzeit - nachts Urinbeutel leeren ---



Der Aufschrei

by Artworker Henryo
Vom Staunen über Erkennen zur Wut und Schmerz bis zum Aufschreien und schließlich zur Ohnmacht ... 9 Phasen sind es ... Sound anhören ...